Jakob Knapp

Maskenball, Theater Vorpommern 2017 Opernwelt 5/2017

 

MANHATTAN TRANSFER
Verdi: Un ballo in maschera

Greifswald / Theater Vorpommern
von Volker Tarnow

Stockholm oder Boston? Der stellvertretende Hausherr entscheidet sich zunächst für einen italienischen Operettenstaat, was im ersten Bild zu den üblichen Augenschmerzen führt. Danach hat Operndirektor Horst Kupich, der diesen Verdi eigenhändig inszeniert, seinem Ausstatter weitgehend Farbenverbot verordnet: nur noch rot und schwarz, dazu etwas weiß! Die Sache läuft nun in optischer Hinsicht optimal. Es gibt keinerlei Dekoration, keinen Nippes, die Protagonisten beherrschen die Szene, unangefochten von Requisiten, was angesichts der Besetzung ein reines Vergnügen ist. Und bei dieser von GMD Golo Berg bestechend sauber und poetisch ausformulierten Musik ohnehin. Auch dass uns hier kein gustavianisches Schweden vorgeführt wird, geht völlig in Ordnung. Zwar klagte Verdi furchtbar über die Zensur, die einen Königsmord auf der Bühne untersagte und die Handlung nach Amerika verlegen ließ, doch für ein authentisches Milieu hatte der Komponist genauso wenig getan wie sein Librettist.

Also kein Gustav III., sondern der altvertraute Riccardo, Gouverneur von Boston, hier als Graf tituliert. Karo Khachatryan singt ihn treffsicher; dass er ihn verkörpert, kann nur von der letzten Szene behauptet werden – der armenische Tenor ist nicht gerade ein begnadeter Schauspieler. Riccardos Freund und späterer Mörder Renato findet in Thomas Rettensteiner einen vokal omnipotenten, machtvoll grundierten Bariton, der – zum wiederholten Male – so freundlich war, das gut hundertjährige Haus der Hansestadt nicht zum Einsturz zu bringen. Neben seiner Gattin Amelia alias Kristi Anna Isene wirkt er dann doch etwas grob – aber solche Paare sind ja keine Seltenheit. Die Norwegerin ist die Stimmkönigin dieses Abends, ihr Sopran von derart delikater Eleganz, dass eigentlich ganz Vorpommern vor der Abwanderung dieser Künstlerin an größere Bühnen zittern müsste. Denn Isene gehört wie Rettensteiner und Khachatryan zum Ensemble. Auch die beiden anderen Solisten werden von eigenen Kräften gestellt: Jardena Flückiger singt hochartistisch die koloraturgesättigte Partie des Oscar, die allerdings zu clownesk angelegt ist, Anne Theresa Moller liefert mit adäquat rauchiger Tiefentimbre eine unwiderstehliche Ulrica ab; ihre Wahrsagerin ist ausnahmsweise keine hexenhaft ums Lagerfeuer huschende Zigeunerin, sondern das Gothic Girl vom nächstgelegenen Friedhof, nebenberuflich vielleicht auch als Domina tätig, auf jeden Fall im Besitz mörderischen Sex Appeals. Glückliches Greifswald, das solche Leute unter Vertrag hat!

Mit der Dislokation des Sujets indes muss man nicht einverstanden sein. Weder Stockholm noch Boston, kein Problem. Wozu aber Manhattans Stadtplan an der Wand, wozu im Programmheft irrelevante Ausführungen zur Urbanistik? Jede Stadt gleiche einem Schachspiel, wird Italo Calvino zitiert – prompt steht auf der Bühne ein großes Schachbrett, die Figuren purzeln nur so umher. Was sagt uns das? Gar nichts. Mit ein wenig Phantasie kann sich der Zuschauer aber seine eigene Inszenierung basteln: Da verwandelt sich zum großen Duett Amelia – Riccardo im zweiten Akt der Stadtplan in einen Friedhofsplan, und es senkt sich, während die Liebenden noch an ihre Illusionen glauben, langsam eine Guillotine über das Bild. Zur Schlüsselszene, als Renato in seiner Gattin die Geliebte des Grafen erkennt, flammt der Friedhofshintergrund noch einmal höllisch auf: unabwendbar ist der Tod. So einfach, so wirkungsvoll könnte es sein ohne dramaturgischen Sinnstiftungsehrgeiz.