Jakob Knapp

Doppelabend, Wir gratulieren & Häuptling Abendwind, Theater Vorpommern, 2019

20.5.2019
Ostsee-Zeitung
Ekkehard Ochs 

Dramatische Gesellschaftskritik und Kannibalen-Parodie

Doppelpremiere mit Werken von Mieczysław Weinberg und Jacques Offenbach

Das Theater Vorpommern gratuliert! Gedacht wird des 100. Geburtstages von Mieczysław Weinberg und des 200. von Jacques Offenbach. Beide füllen seit vorgestern gemeinsam einen Opernabend: ersterer mit der sozial aufmüpfigen zweiaktigen Oper „Wir gratulieren“ (1975) nach Scholem Alejchem, Letzterer mit Jacques Offenbachs skurriler Buffo-Operette „Häuptling Abendwind oder das gräuliche Festmahl“, für den als Vorlage Johann Nestroy und die Librettisten Léon Battu und Philipp Gille verantwortlich zeichnen. Gratulieren kann man aber auch dem Theater selbst, denn Hort Kupich (Inszenierung), Jakob Knapp (Bühne und Kostüme) und Katja Pfeifer (Dramaturgie) haben sich für diesen ambivalent unterhaltsamen Doppelabend allerhand einfallen lassen. Sie nutzen sowohl rein äußerlich Verbindendes (Festmahl) als auch die konträren Situationen als Brennpunkte für entweder individualdramatische oder grotesk politisch parodierte Handlungen. Der Spaß am Spiel - mal mit, mal ohne tiefere Bedeutung – wird darüber nicht vergessen. Bei Weinberg (1919-1996), als Jude vor den Nazis geflohen und in der Sowjetunion verfolgt beziehungsweise kaum beachtet, entzündet sich das sehr persönliche Geschehen im Rahmen einer Festmahl-Vorbereitung für die verhassten „da oben“. Konterkariert werden diese von denen „da unten“, der in der Küche verschwörerisch versammelten Dienerschaft als einer menschlich berührenden, ansonsten geradezu klassenkämpferisch aufmüpfigen Gesellschaft. Die gemeinsame finale Vision: „Das Blatt hat sich gewendet. Geld regiert nicht mehr die Welt“. Vor drohender Revolution kann Madame „von oben“ nur noch resignieren.

Auch Offenbach präsentiert Küche samt Lukullischem, entführt aber zu den Kannibalen. Das Treffen zweier Häuptlinge, das beabsichtigte Verspeisen eines Fremdlings, der sich als Sohn des einen Häuptlings entpuppt und dank in Paris gelernter Friseurkunst dem Kochtopf entkommt, ist schon vom Stück her derart überspitzt, dass hier nur eine – noch durch zusätzliche Aktualisierungen, Wortspiele und frech veränderte Verdi-Zitate (in der eigenen Hausfassung) verstärkte – handfeste politische Parodie angenommen werden kann: mit Lügen, Hinterhältigkeit, Bruderkuss, gegenseitigem Fressen und Gefressenwerden.

So wirkt der Abend schon mal mit heftig realistisch beziehungsweise grotesk genüsslich und so konträr wie überzeugend realisierter Darstellung. Dies in einem Ambiente, das sich zwischen Schneesturm sowie eher dürftiger russischer Kücheneinrichtung und farbenpraller polynesischer Inselwelt abspielt.

Konträres allenthalben und somit auch im Musikalischen. Ein Weinberg, gemäßigt modern und wie sein unüberhörbares Vorbild Schostakowitsch ausgesprochen expressiv, stringent Atmosphäre einfangend und mit variabler Stilistik höchst bühnenwirksam. Und ein Offenbach mit rühmlichst bekannter Palette so einfallsreicher wie geradezu schlitzohrig genial servierter und sehr unterhaltsamer Gesangsnummern. Starke Bühnenpräsenz also von beiden und damit beim Ensemble des Theaters Vorpommern in besten Händen. So mit bemerkenswert gemeisterten, sehr gegensätzlichen Doppelrollen von Pihla Terttunen (jeweils Köchin), Karo Khachatryan (Reb Alter, Häuptling Cordon Bleu) und Katarzyna Rabczuk (Madame, Atala), nur bei bei Weinberg mit Franziska Ringe (Fradl) und Alexandru Constantinescu (Chaim), bei Offenbach mit Thomas Rettensteiner (Häuptling Abendwind) und Semjon Bulinsky (Arthur). Ein perfekt durchgestylter, ausgefeilt präsentierter Abend, geprägt von starken sängerischen wie darstellerischen Leistungen sowohl im Dramatischen (Weinberg) als auch im lustvoll überbetonten Bühnenspaß Offenbachs. Der Chor (Mauro Fabbri) – wie immer – glänzend, das Orchester unter Alexander Steinitz souverän im Umgang mit den sehr unterschiedlichen Ansprüchen zweier gegensätzlicher kaum vorstellbarer Autoren. Spannende Verlautbarungen aus konträren Klang- und Gedankenwelten. Geburtstagsgeschenke mit Anspruch!

Ekkehard Ochs, Ostsee-Zeitung, 20.5.2019